Ingo Nöhr Juli 2021: Die Post-Corona-Gesellschaft
Ingo Nöhr zum 1. Juli 2021
Die Post-Corona-Gesellschaft
Nachdem sich an der Corona-Front etwas Entspannung andeutet und die Deutschen wieder in ihren traditionellen Urlaubsrausch verfallen, dringen andere, beunruhigende Meldungen ins kollektive Bewusstsein. Ein schwerer Tornado zerstört ganze Dörfer in Czechien, die USA und Kanada erleben eine unvorstellbare Hitzewelle, in Sibirien taut der Permafrostboden auf und die Bundesregierung hat nach der schallenden Ohrfeige vom Bundesverfassungsgericht einen verbesserten Entwurf für ein neues Klimaschutzgesetz vorgelegt. Nun übertreffen sich die Parteien mit wohlklingenden Bekenntnissen zum radikalen Schutz von Umwelt und Klima. Die beiden Pensionäre Ingo und Jupp sind aber nicht so recht überzeugt. Was bringt wohl die Nach-Corona-Zeit?
Hallo Ingo, jetzt geht es dem Klimawandel aber ordentlich an den Kragen, was? Alle Politiker geloben Besserung. Höchste Zeit, wo der deutsche Wald zunehmend dahinsiecht – da versteht der Bundesbürger keinen Spaß mehr. Nur noch jeder fünfte Baum verfügt über eine intakte Baumkrone.
- Lass mich raten, Jupp. Dein überraschend positives Statement soll wahrscheinlich nur überdecken, dass du als unverbesserlicher Pessimist mit der nächsten Katastrophe rechnest, deren Krisenmanagement unser Staat wieder gründlich vermasseln wird.
Ist das so verwunderlich, Ingo? Die jahrelangen Versäumnisse in der Digitalisierung, im Bildungswesen und im Gesundheitswesen haben wohl mehr Schaden angerichtet als die Pandemie selbst. Es ist doch jedem Bürger in den letzten anderthalb Jahren deutlich geworden, dass unsere Schönwetter-Bürokratie und das föderale System derartigen Krisen nicht gewachsen sind. Vor allem, wenn wegen Wählerstimmen und Wirtschaftslobbyisten die wissenschaftlichen Warnungen ignoriert werden. Glaubst du daran, dass unser deutsches Staatsgebilde mit den weit größeren Herausforderungen des Klimawandels klar kommen wird?
- Na ja, Jupp, verglichen mit einigen Nachbarländern haben wir die Corona-Krise noch relativ gut gemeistert. Wenn auch mit unglaublich hohen Kosten, deren Rückzahlung uns noch generationenlang belasten wird.
Ingo, genauso wird es wohl weitergehen – jeder bedeutende Meckerer wird als Entschädigung mit einem erklecklichen Sümmchen aus dem Steuertopf ruhiggestellt. Die weniger lauten Betroffenen, sprich das namenlose Stimmvieh, werden wohl wie üblich in die Röhre gucken und letztendlich mit ihren Steuern die Wohltaten bezahlen müssen.
- Ich weiß nicht so recht, Jupp, ob das bisherige System weiterhin so funktionieren wird. Im Volk hat sich eine gewaltige Wut auf die Entscheidungsträger und Politiker angestaut, die sich nicht nur am Wahlabend im September entladen könnte. Das Vertrauen in Vater Staat und Mutti Merkel ist schwer angekratzt. Der alte Henry Kissinger schrieb im April 2020 im Wall Street Journal: „Der Zusammenhalt und wirtschaftliche Erfolg von Ländern basiert auf dem Glauben, dass ihre Institutionen Katastrophen vorhersehen, ihre Auswirkungen stoppen und die Stabilität wiederherstellen können. Wenn die Covid-19- Pandemie vorbei ist, werden die Institutionen vieler Länder als gescheitert gebrandmarkt sein.“ Vergiss nicht, dass die Pandemie in ärmeren Ländern die Armut, Ungleichheit und Korruption dramatisch verschärft hat. Es hat eine massive Umverteilung von Reichtum an wenige Profiteure stattgefunden.
Ja, Ingo – das sehe ich auch so. Die rebellische Jugend, die Querdenker und ihre Verschwörungsgläubigen lassen sich nicht mehr mundtot machen, sondern verbreiten sich unzensiert immer stärker im Internet und im Büchermarkt, oft kaum beachtet von den öffentlichen Medien. Demonstrationsverbote und rigorose Polizeieinsätze verschärfen nur den Widerstand und schaffen Märtyrer. Vielleicht sind die USA mit ihren Trump-hörigen Republikanern wieder mal die Vorreiter einer gesellschaftlichen Entwicklung in Deutschland.
- Ich glaube, wir müssen bei der Analyse der Ursachen etwas tiefer hinschauen, Jupp, denn das Covid-19 Virus hat als Verstärker langjährig ignorierte Probleme aus strukturellen Defiziten der Gesellschaft offengelegt. Der bislang praktizierte Neoliberalismus hat immer das Wirtschaftswachstum über soziales Wohlergehen gestellt. Die wichtigsten Vertreter dieses Wirtschaftskonzeptes, die USA und Großbritannien, hatten in der Pandemie die meisten Opfer zu beklagen. Während die Arbeiter an vorderster Front arbeiteten, um im Gesundheitswesen Menschenleben und in der Produktion beziehungsweise im Handel die Wirtschaft zu retten, konnte die Mittel- und Oberschicht bequem und gut versorgt zu Hause arbeiten. Im Bundesstaat Michigan zum Beispiel leben weniger als 15% schwarze Einwohner. Sie machten aber 40% aller Corona-Todesfälle aus.
Es ist doch kaum zu fassen, Ingo, dass gerade die Personen, welche die Gesellschaft am meisten braucht, die also wirklich „systemrelevant“ sind, wirtschaftlich am schlechtesten entlohnt werden. Die Pflegekräfte lassen sich nicht mehr länger mit einem Applaus vom Balkon abspeisen. Im Gegenzug protzen dann die Hedgefonds-Manager mit ihren Jahreseinkommen in Millionenhöhe, ohne dass sie überhaupt einen Beitrag zum sozialen Wohlergehen leisten. Es gibt zahllose Studien und Artikel, die darauf hinweisen, dass Menschen ohne Arbeit und Einkommen und ohne Aussichten auf ein besseres Leben häufig zu Gewalt neigen. Aber der Lerneffekt daraus ist gleich Null.
- Richtig, Jupp. Die Zahl der Unruhen und Proteste von Regierungsgegnern hat in den letzten zwei Jahren stark zugenommen. Kein Wunder. Etwa 30% der US-Amerikaner haben keinerlei Besitz oder sind verschuldet. Viele Familien haben Kredite aufgenommen, um sich ärztlich behandeln zu lassen. Das sind soziale Zeitbomben. Die „Black Lives Matter“ – Bewegung hat sich rasch weltweit ausgedehnt, sie war ein Funke, der das Feuer der sozialen Unruhen entfachte. In manchen Ländern führte der wachsende Unmut schon zu Wahlsiegen populistischer und extremistischer Parteien.
Jetzt staune ich aber, Ingo. Das sind doch letztendlich erschreckende Aussichten, die du da von dir gibst. Wo ist jetzt dein optimistischer Blick auf das Geschehen abgeblieben?
- Da ist ein Blick in die Geschichte hilfreich, mein lieber Jupp. Krisen haben in den letzten Jahrhunderten immer zu einer Stärkung der Staatsmacht beigetragen. Die rein marktbezogenen Lösungen haben nie zur Bewältigung von Krisen beigetragen. Aktuell wurde es doch in unserem Gesundheitswesen deutlich, wo, vornehm ausgedrückt: „die Übertragung von wichtigen Bereichen auf kommerzielle Marktteilnehmer nicht die sozialen Interessen der Gesellschaft berücksichtigt hat“. Oder wie es der Intensivpfleger Ricardo Lange in einer Talkshow mit Markus Lanz treffender ausdrückte: „Kliniken sind momentan eher Fabriken, wo die Ware Mensch hineinkommt und da wird Geld generiert bis zum letzten Atemzug. Da wird halt immer am Mensch gespart, am Personal gespart.“
Die Folgen der Globalisierung und deren Abhängigkeit von weltweiten Lieferketten haben wir ja auch bei der Beschaffung von Masken und Impfstoffen schmerzlich erleben müssen. Und du meinst jetzt, dass der Staat nach der Pandemie wieder sein soziales Gewissen entdecken wird und sich der Absicherung der verarmten Bevölkerung stärker annimmt. Nun ja, zugegeben, er hat ja zur Beruhigung schon gewaltige Mengen an Helikoptergeld ausgeschüttet. Aber hat dieser Geldsegen auch eine nachhaltige Wirkung?
- Es geht nicht nur um Geld, Stichwort Grundrente und Kurzarbeit, sondern auch um eine neue Machtverteilung und Machtkontrolle in der Gesellschaft. Der Raubtierkapitalismus muss dringend gezähmt werden, gerade im Hinblick auf den Umwelt- und Klimaschutz. Ich nenne dir mal zwei Beispiele: die Auswirkungen des Zweiten Weltkrieg resultierten in fast ganz Europa in der Einführung eines umfassenden staatlichen Sozialsystems. Im Kalten Krieg wetteiferten die Politiker in den kapitalistischen Ländern mit der kommunistischen Alternative im Osten. Deswegen verwalteten bei uns staatliche Bürokraten große Teile der Wirtschaft im Verkehrswesen und der Energieversorgung. Und schon zu Beginn der Pandemie starteten die Regierungen der ganzen Welt riesige Konjunkturprogramme.
Was erwartest du denn genau in der Nach-Corona-Ära, Ingo? Können die Ausnahmezustände erst dann wieder zurückgefahren werden, wenn die digitale Überwachung der Gesellschaft ausreichend etabliert worden ist? Ich erinnere nur an China, wo das Social Credit System die oppositionelle Bevölkerung immer mehr im Griff hat und jeder Bürger permanent überwacht wird. Werden uns unzählige KI-Programme und Kontaktverfolge-Apps bald auch zu gläsernen Bürgern machen?
- Das will ich nicht ausschließen, Jupp, aber insgesamt hat das Bewusstsein und der Anspruch auf persönliche Freiheiten aufgrund der massiven Beschränkungen durch die Pandemie-Maßnahmen deutlich zugenommen. Große Teile der Gesellschaft sind sensibilisiert und lassen sich nicht so einfach mehr überwachen und wie unmündige Kinder gängeln, vor allem die jüngere Generation nicht. Die Pandemie hat ihr Leben auf den Kopf gestellt und sie dauerhaft gezeichnet. Die Bewegung „Fridays for Future“ ist nur der Beginn eines wachsenden Selbstbewusstseins mit klaren Forderungen an die Machthaber. Sie haben mit der Nutzung ihrer Smartphones längst das Contact Tracking und Tracing akzeptiert, lassen sich aber trotzdem nicht den Mund verbieten und stehen jeglicher Obrigkeit kritisch gegenüber, insbesondere verstärkt durch ihre digitalen Netzwerke. Sie werden den sozialen Wandel entschlossen vorantreiben, denn es geht um ihre eigene Zukunft. Im September 2019 demonstrierten vier Millionen junge Menschen gleichzeitig in 150 Ländern für dringende Maßnahmen gegen den Klimawandel.
Tja, lieber Ingo, ich habe langsam das Gefühl, dass deine schon jahrelang vorher beschriebenen Ahnungen vom disruptiven Wandel unserer Gesellschaftsform allmählich konkret werden. Lass uns auf die Post-Corona-Zeit anstoßen, auf dass wir alten Knacker dabei nicht vergessen werden.
- Gut gesprochen, Jupp. Ein Prost auf unser aller Zukunft.
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„Die historische Herausforderung für Führungspersönlichkeiten besteht darin, die Krise zu bewältigen und gleichzeitig die Zukunft zu gestalten. Ein Scheitern könnte die Welt in Brand setzen.“
(Henry Kissinger im Wall Street Journal vom 3. April 2020)
„Wie wird diese Generation reagieren? Durch den Vorschlag radikaler Lösungen (und häufig radikaler Handlungen) als Versuch, die nächste Katastrophe abzuwenden, egal ob Klimawandel oder soziale Ungleichheiten. Sie wird höchstwahrscheinlich eine radikale Alternative zum derzeitigen Gang der Dinge fordern, weil ihre Mitglieder frustriert und von dem quälenden Glauben verfolgt werden, dass das aktuelle System irreparabel beschädigt ist.“
(Klaus Schwab, Weltwirtschaftsforum 2020: Covid-19: Der große Umbruch)
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