Ingo Nöhr November 2021: Komm mit in meine Neue Welt!
Es geht auf den Winter zu, die Stimmung sinkt, auch angesichts der anhaltenden schlechten Nachrichten. Die vierte Corona-Welle wird erwartet, die Intensivstationen füllen sich zunehmend mit Ungeimpften. Beim ausgebrannten Medizinpersonal zeichnet sich eine Massenflucht aus dem Job ab. Der nachlassende Impfschutz scheint zur großen Freude der Pharmaindustrie eine dritte Impfrunde einzuläuten, die dann vielleicht in eine jährliche Auffrischungsimpfung ausartet.
Unberechenbare Staatsregenten stürzen ihr Volk in die Verzweiflung: Erdogan ruiniert die türkische Wirtschaft mit seiner eigenwilligen Zinspolitik, ein brasilianischer Untersuchungsausschuss fordert strafrechtliche Konsequenzen für Regierungschef Bolsonaro und weiter 79 Verantwortliche für die 600.000 Corona-Toten. Aber dieser erhält Rückenwind von einem guten Freund: „Bolsonaro kämpfe hart für die Bevölkerung, ebenso wie Trump selbst für die Menschen in den USA.“ Polen soll jetzt täglich eine Million Euro Bußgeld wegen der gesetzlichen Abschaffung des unabhängigen Richtertums zahlen. Und Belarus-Präsident Lukaschenko hat bei den professionellen Schlepperbanden abgekupfert und transportiert tausende Migranten an die polnische EU-Grenze, die dort nun mit ihren Familien in den sumpfigen Wäldern hausen müssen.
Der aktuelle Bericht des Weltklimarates zerstört mit seinen deprimierenden Fakten die Hoffnung auf bessere Neuigkeiten in den nächsten beiden Teilberichten für Februar und März 2022. Kurzum: eine schwere Zeit für den unverbesserlichen Optimisten Ingo Nöhr.
Ich muss dir ausnahmsweise mal Recht geben, mein lieber Ingo. Schwere Zeiten, aber wir jammern als rüstige Rentner auf höchstem Niveau. Reichskanzler Bismarck führte 1889 die Altersrente mit einem Anspruch ab dem 70. Lebensjahr ein. Das war damals finanziell kein großes Wagnis, denn die mittlere Lebenserwartung betrug gerade mal 40 Jahre. Heute beginnt der Renteneinstieg im Durchschnitt mit 62 Jahren, allerdings bei einer Lebenserwartung von 80 Jahren. Da haben wir beide noch Glück gehabt. In den nächsten Jahren erreichen rund 20 Millionen Babyboomer den Ruhestand und möchten möglichst schnell ihre Rente beziehen. Wenn du dir aber die Bevölkerungspyramide anschaust, stellt sich die Frage, wo das Geld denn herkommen soll.
- Bleib cool, Jupp, jetzt wird doch alles besser mit der neuen Regierung. Alle reden vom Umbruch, den gewaltigen Reformen und dem Klimawandel. Der neue Bundestag hat wieder frisches Blut bekommen, ein Drittel der Abgeordneten ist jünger als 40 Jahre, das Durchschnittsalter ist um zwei Jahre gesunken.
Ingo, das ist doch nicht das Problem. Ein Viertel des Bundestages ist von Juristen besetzt, dazu kommen noch 13% Lehrer, 11% Wirtschaftsleute und 8% Kaufleute. Juristen, Lehrer! Die Hälfte der Volksvertreter ohne realitätsnahe Lebenserfahrung! Was mir fehlt, sind die abgehärteten Kämpfer von der Front: 17 Handwerker und 11 Ärzte gehen in der schieren Masse von 736 Entscheidern einfach unter.
- Jupp, jetzt haben wir aber mehr Frauen bei den Entscheidern, und die kämpfen wahrhaftig an der Front. Bei dir bricht mal wieder der Pessimist durch, kein Wunder bei diesem stürmischen Herbstwetter. Erinnerst du dich noch an den indonesischen Flüchtling, den wir in unserem Krankenhaus als Techniker eingestellt hatten. Er kam im Sommer erstmals nach Deutschland und kannte bislang nur seine tropische Heimat. Als im Herbst die Blätter von den Bäumen fielen und der erste Frost kam, traf ihn eine tiefe Depression angesichts des angeblichen Sterbens der Natur. Wir haben ihn mit vereinten Kräften bis zum Frühjahr vor dem Suizid bewahrt. Dann kam das große Staunen über die knospenden Pflanzen und sein Lebensmut kam zurück.
Ich verstehe, Ingo. Wir hatten uns ja vor ein paar Wochen über die Kondratjew-Zyklen unterhalten, dieses Auf und Ab der Entwicklungs- und Umbruchphasen. Du glaubst also wieder einmal, wir befinden uns gerade in der Talsohle und in Kürze kommt der Phönix aus der Asche und alles wird wieder gut? Daher schaust du dir in Ruhe an, wie unsere Welt vor die Hunde geht. Da finde ich die Reaktion meines Nachbarn aber besser. Er verkauft gerade sein Haus und schafft sich dafür ein Wohnmobil an. Er will ins gesegnete Schweden auswandern und sich die Übernahme Deutschlands durch die Illuminaten und andere Reptiloiden von der Ferne aus ansehen. Wenn der Klimawandel doch wider Erwarten doch kommen sollte, kann er ja im Norden Wein anbauen.
- Das ist doch eine gute Nachricht. Dann bist du den lästigen Querdenker endlich los, oder hat er dich etwa auch schon infiltriert? Aber in Schweden ist er ja der bösartigen EU nicht entronnen. Wäre er da nicht besser in Großbritannien aufgehoben? Die suchen gerade deutsche LKW-Fahrer, oder aktuell sogar Busfahrer, seit diese in großer Anzahl zu den besser bezahlenden Transportfirmen übergelaufen sind. Aber Spaß beiseite. Denk doch mal an den Schwarzen Schwan oder an Talebs Truthahn, über den wir im Mai letzten Jahres gesprochen haben. Du machst den Fehler, dass du den gewärtigen Zustand einfach linear in die Zukunft extrapolierst, ohne daran zu denken, dass ein einziges unvorhergesehenes Ereignis die Situation radikal verändern kann. Hast du den 9/11 Anschlag auf dem Schirm gehabt, die weltweite Corona-Pandemie, die Übernahme Afghanistans durch die Taliban, den Absturz der Volksparteien bei der letzten Wahl?
Natürlich nicht, genauso wenig wie du. Aber Ingo, du lebst augenscheinlich nach dem Motto: Niemals aufgeben. Heute ist hart, morgen wird es schlimmer. Aber übermorgen wird die Sonne scheinen.
- Das mag so aussehen, Jupp, aber du fokussierst du dich nur auf das Morgen. Deine schlechte Nachricht lautet: Nichts hält ewig. Irgendwann geht alles vorbei. Aber das ist doch gleichzeitig auch die gute Nachricht. Du fühlst dich wie damals ein gutverdienender Besitzer einer Pferdekutsche. Wenn dich Henry Ford vor 120 Jahren gefragt hätte, was du von ihm erwartest, hättest du schnellere Pferde gefordert.
Wenn er mir gefolgt wäre, hätten wir vielleicht heute eine bessere Welt: ohne Umweltverschmutzung, Rohstoffengpässe und Kriege um Erdölregionen. Saubere Luft in den Städten und keine Parkplatzprobleme. Heutzutage gibt es kaum noch erfreuliche Meldungen.
- Aber du wärest sicherlich in den Pferdeäppeln auf der Straße versunken. Kaum gute Nachrichten? Dies könnte aber auch dein Wahrnehmungsproblem sein. Unsere Medien bevorzugen eben negative Meldungen, sie steigern den Umsatz und die Reichweite. Es unterstützt wohl auch den psychologischen Effekt des Wohlfühlens angesichts der Schicksale anderer: die armen Menschen da – gut, dass ich noch im Warmen sitze.
Aber Ingo, Fakt ist doch, dass immer mehr Menschen nicht mehr angenehm im Warmen sitzen, sondern plötzlich ihre Autos in einer Flutwelle davonschwimmen sehen oder ein Tornado ihre Dächer davonsegeln lässt. Wir essen feingemahlenen Plastikmüll in unserem Fischfilet und schwächen unsere Abwehrkräfte durch antibiotikabelastetes Fleisch und glyphosatgedüngtes Gemüse. Unsere noch schutzbietende Insel schmilzt dahin und wird zunehmend von verzweifelten Flüchtlingen geentert.
- Dein Nest wird bedroht. Die Futurologin Faith Popcorn hat 1991 in ihrem Popcorn-Report einen Trend namens Cocooning beschrieben: „Als wir diese Bezeichnung wählten, verstanden wir darunter das Bedürfnis, nach innen zu gehen, wenn draußen alles zu rauh und erschreckend wird. Sich mit einer Schutzhülle zu umgeben, damit man nicht einer schlechten, unberechenbaren Welt ausgesetzt ist – jenen Widrigkeiten und Angriffen, die von unhöflichen Kellnern, Lärmbelästigung und Luftverschmutzung bis hin zu Drogenkriminalität, Wirtschaftsrezession und Aids reichen. Das Kokon-Dasein bedeutet Isolierung und Vermeidung, Friede und Schutz, Geborgenheit und Kontrolle – eine Art überdimensionaler Nestbau.“
Vor dreißig Jahren hat sie das geschrieben? Wow, diese Szenerie ist ja beängstigend aktuell. Vermutlich flüchten wir Deutsche deshalb in Pauschalurlaube mit Animationen und Touren auf Kreuzfahrtschiffen in die noch bestehenden Traumländer, um für ein paar Tage genügend Abstand von unserer vermüllten Umwelt zu gewinnen.
- Das ist denkbar, Jupp, allerdings schrumpft die Menge der noch bestehenden Traumländer und man muss immer mehr auf isolierte Touristenghettos mit Folkloretänzen und Disney-World Trips mit ihren simulierten Kulturen ausweichen. Warst du nicht auch öfter mal in Mallorca zu finden, bei deinen deutschsprachigen Kellnern und Inselführern? Im 17. Bundesland, wo noch die Sonne scheint und der Sangria fließt?
Also Ingo, nun werde mal nicht persönlich, sonst reden wir auch mal über deine Studienreisen in ferne Länder. Aber ich denke, Jeff Bezos, das ist dieser arme Kerl, der kürzlich von Elon Musk von seinem Thron als reichster Mensch der Welt heruntergestoßen wurde; also Jeffs Unternehmen Blue Origin plant die absolute Steigerung bis 2030: ein Fünf-Sterne-Hotel für Milliardäre in seiner Raumstation Orbital Reef. Ein Riff, das als blühendes Ökosystem das Leben im All möglich macht. Von da oben sieht man den selbstproduzierten Dreck nicht mehr. In seinem Prospekt wird er allerdings verschweigen müssen, dass seine Gäste aufbereitetes Wasser aus ihrem Urin und Schweiß trinken müssen – aber mit feinstem Whiskey verdünnt, merkt das keiner mehr.
- Das ist interessant, Jupp. Als wenn die Ratten schon das sinkende Schiff verlassen wollen. Elon Musk will mit seiner Monsterrakete Starship den Planeten Mars besiedeln. Aber dort stelle ich mir das Leben in seinen Kolonien nicht so komfortabel vor. Nach einem Monat Sandburgenbauen und Dünensurfen dürfte sich bei den Gästen langsam die Langeweile einstellen.
Na ja, Ingo, auf zum Mars! Das dürfte mit unserer Reisebuchung noch etwas dauern. Wir werden es wohl nicht mehr erleben. Nachdem die Raumstation ISS in die Jahre gekommen ist und die gegenwärtigen Insassen die Beschwerdeliste immer weiter anschwellen lassen, bauen die Chinesen und Russen schon die Nachfolger im Weltraum. Natürlich auch mit einem lukrativen Hintergedanken: als ultimativer Erlebnistrip für betuchte Gäste.
- Aber kommen wir zurück zum individuellen Cocooning, lieber Jupp, das dürfte etwas erschwinglicher für dich sein. Der dritte Superreiche im Bunde, Mark Zuckerberg bastelt am Facebook-Nachfolger, dem Mammutprojekt Metaverse, welches das mobile Internet mit seinen lästigen staatlichen Zensureingriffen künftig ersetzen soll. Metaverse ist eine Vision einer privat betriebenen Cyberwelt, in der physische und virtuelle Realitäten miteinander verschmelzen sollen. Der Science-Fiction Autor Neal Stephenson hatte 1992 in seinem Roman Snow Crash solch eine digitale Ersatzwelt mit Avataren beschrieben, in die sich Bürger vom distopischen Los Angeles mittels Virtual Reality in die Traumwelt eines Metaversums flüchten. Interessanterweise hat Stephenson auch ein paar Jahre Jeff Bezos beraten, dem war aber die Cyberwelt wohl noch zu erdverbunden.
Ingo, du hast mir so etwas schon früher einmal prophezeit. Nach meinen Unterlagen wolltest du mir im August 2015 folgende Vision schmackhaft machen: „… im fortgeschrittenen Alter liegt er dann berauscht in seiner Virtual Reality Kapsel, betreut von Pflegerobotern und überwacht von telemetrischen Sensoren. Der fällt dem Gesundheitswesen nur noch minimal zur Last.“ Sind wir jetzt bald soweit? Und wo bleibst du denn? Schaust du mir dann von der Raumstation Tiangong beim digitalen Rausch zu? Ein schöner Freund bist du. Das kostet dich jetzt aber eine Runde Bier.
- Na gut, Jupp, also, wenn dir der Alkoholrausch besser gefällt, dann warten wir eben für unsere privaten Fluchten auf die Cannabis-Freigabe durch die neue Regierung. Bis dahin halte Dich besser von negativen Menschen fern. Sie haben ein Problem für jede Lösung. Das meinte schon vorausblickend Albert Einstein. Also Prost auf die bedauernswerten Schwarzseher der Welt.
Gut Ingo, warte du mal bekifft in deinem Kokon auf das Erscheinen des Phönix-Vogels und glaube weiterhin an das Gute im Menschen.
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Ein Mann will ein Bild aufhängen. Den Nagel hat er, nicht aber den Hammer. Der Nachbar hat einen. Also beschließt unser Mann, hinüberzugehen und ihn auszuborgen.
Doch da kommt ihm ein Zweifel: Was, wenn der Nachbar mir den Hammer nicht leihen will? Gestern schon grüßte er mich nur so flüchtig. Vielleicht war er in Eile. Vielleicht hat er die Eile nur vorgeschützt, und er hat was gegen mich. Und was? Ich habe ihm nichts getan; der bildet sich da etwas ein. Wenn jemand von mir ein Werkzeug borgen wollte, ich gäbe es ihm sofort. Und warum er nicht? Wie kann man einem Mitmenschen einen so einfachen Gefallen abschlagen? Leute wie dieser Kerl vergiften einem das Leben. Und dann bildet er sich noch ein, ich sei auf ihn angewiesen. Bloß weil er einen Hammer hat. Jetzt reicht´s mir wirklich.
Und so stürmt er hinüber, läutet, der Nachbar öffnet, doch bevor er „Guten Tag“ sagen kann, schreit ihn unser Mann an: „Behalten Sie Ihren Hammer“.
Paul Watzlawick (1921-2007), Zitat aus: Anleitung zum Unglücklich sein (1983)
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Die Anmaßung der Menschen, Verantwortung für die lebende Erde zu übernehmen, erscheint mir lächerlich – es ist die Rhetorik der Machtlosen. Unser Planet sorgt für uns, nicht wir für ihn. Unser aufgeblasenes moralisches Gebot, eine widerspenstige Erde zu zähmen oder unseren kranken Planeten zu heilen, zeigt nur unsere maßlose Fähigkeit zur Selbsttäuschung.
In Wirklichkeit müssen wir uns vor uns selbst schützen. Wir müssen ehrlich sein. Wir müssen uns von unserer artspezifischen Arroganz befreien. Es gibt keinerlei Anhaltspunkte dafür, dass wir jene einzigartige, auserwählte Spezies sind, für die alle anderen gemacht wurden. Und wir sind auch nicht die wichtigste Spezies, nur weil wir so mächtig, zahlreich und gefährlich sind. Unsere hartnäckige Illusion einer besonderen göttlichen Fügung steht im völligen Widerspruch zu unserer wahren Stellung als aufrecht gehende, kümmerliche Säugetiere.
Lynn Margulis (1938–2012), Zitat aus: Symbiotic Planet – A New Look At Evolution (1999)
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