Ingo Nöhr zum 1. September: Das literarische Duett

» Artikel veröffentlicht am 05.09.22, von

Meldungen über Krisen aller Art füllen bereits das tägliche Leben aus: Inflation, steigende Preise, drohende Energie-Engpässe, Klimakatastrophen, bombardierte Atommeiler, unendliches Kriegsleiden, – und nun auch noch das Ende des beliebten Neun- Euro-Tickets. Die Despoten der Welt wittern wieder Morgenluft, Krieg entwickelt sich zu einem neuen Mittel der Politik und die katholische Kirche vergrault langsam auch ihre letzten Schäfchen.

Gut, dass sich Ingo mit seinem unerschütterlichen Optimismus und seinem Glauben an einem Neuanfang in einer besseren Welt selber immunisiert hat. Und sein Kumpel Jupp? Der hat Ingos Rat beherzigt, konsequent Fernsehen und Internet abgeschaltet und verkriecht sich in die fiktive Welt der Bücher. Dennoch treffen sich beide wieder zu ihrem traditionellen Frühschoppen in ihrer Eckkneipe.

Na Jupp, wie geht es dir heute? Hast du nach Tolstois Krieg und Frieden wieder ein neues Buch gelesen?

  • Ja, Ingo, stell dir vor: ich bin auf einem neuen Trip. Gilbert Keith Chesterton hat 49 Geschichten über Father Brown geschrieben – über den kleinen Pfarrer, der Kriminalfälle löst, indem er sich in die Figur des Täters versetzt. Allerdings wird er mit der Zeit immer katholischer und die Übeltäter sind zunehmend die Puritaner und Atheisten. Genial geschrieben – die Hälfte habe ich schon gelesen, aber religiöser bin ich dadurch nicht geworden. Er hat mir dennoch ein schönes Motto mitgegeben: „Der wahre Fortschritt besteht darin, im Vorwärtseilen Ausschau zu halten, wo man stehenbleiben kann.“

Ja, das freut mich aber für dich, Ingo. So ist es richtig: Die echte Lebensweisheit besteht darin, im Alltäglichen das Wunderbare zu sehen. Und das kann man nur in Ruhe beim Anhalten. Chesterton hat mir auch etwas Beruhigendes mitgeteilt: „Der Mann, der Einklang in Dingen sieht, ist ein gewitzter Kopf. Der Mann, der die Widersprüchlichkeit in Dingen sieht, ist ein Humorist.“ Aber sag mal, was kommt denn als Nächstes, wenn du Father Brown durchgelesen hast?

  • Oh, mich fasziniert die feine englische Art zu Leben. Ich habe schon eine Warteliste mit Dutzenden Romane und Kurzgeschichten von Agatha Christie angelegt. Ich liebe Hercule Poirot mit seinen kleinen grauen Zellen und Miss Marple, die strickende alte Jungfer. Passender Spruch gefällig? „Ich habe gelernt, dass man nicht umkehren kann, dass das Wesentliche im Leben ist, vorwärtszugehen. Das Leben ist in Wirklichkeit eine Einbahnstraße.”

Aber beim Vorwärtsgehen nicht das Stehenbleiben vergessen, wie Chesterton anmahnt. Du bist also rettungslos ein Krimifan geworden, allerdings der eher höhergeistigen Literatur. Das hört sich für mich nach einem Anti-Demenz-Training an, oder?

  • Sicherlich hält es meine grauen Zellen davon ab, sich allzuschnell zur Ruhe zu setzen. Deswegen schaue ich zwischendrin auch mal bei Sherlock Holmes und seinem Doktor Watson vorbei. Sein Motto: „Kriminalität ist weit verbreitet. Logik ist selten. Daher solltest du dich eher mit der Logik als mit dem Verbrechen befassen.“ Bei ihm finde ich noch die logischen Zusammenhänge, die für mich in der realen Welt nicht mehr auffindbar sind.

Hast du denn überhaupt noch Kontakt zur Wirklichkeit, wenn du dich von allen Nachrichten abschottest?

  • Dummerweise schon, denn seit zwei Wochen ist mein verrückter Nachbar wieder aufgetaucht. Weil er als Aussteiger sein Haus verkauft hat, logiert er jetzt in einem Zelt in seinem ehemaligen Vorgarten.

Wie bitte? Der war doch seit einem halben Jahr mit seinem Wohnmobil auf dem Weg nach Schweden, um den Reptiloiden in der deutschen Regierung zu entkommen. Was ist passiert?

  • Ingo, darüber könntest du ein spannendes Buch schreiben. Ich fasse mich mal kurz: Durch Dänemark ist er noch gut durchgekommen. Auf dem Rastplatz vor der Öresundbrücke hat er dann ein Anhalterpärchen mitgenommen. Auf der schwedischen Seite kam er in eine Grenzkontrolle: seine Mitfahrer hatten keine gültigen Reisepapiere und dummerweise noch reichlich Drogen im Gepäck. Festnahme und Anzeige wegen Menschenschmuggel und Drogenhandel.

Lass mich raten: Bestimmt waren das ebenfalls Impfverweigerer und Querdenker auf der Flucht vor den bösen Illuminaten.

  • Mag sein. Jedenfalls, mein Nachbar ist ja ein cleveres Bürschchen. Er hat spontan einen körperlichen Zusammenbruch simuliert, kam in eine medizinische Einrichtung, ist dort in einem unbewachten Moment abgehauen. Natürlich musste er sein Wohnmobil zurücklassen, er hatte aber noch sein Geld dabei. Im Hafen von Malmö hat er einen Schleuser ausfindig gemacht, der ihn über die Ostsee nach Polen verschifft hat, wo er sich als ukrainischer Flüchtling registrieren ließ. Und auf dem Weg nach Deutschland hat er sich wieder in einen deutschen Rentner verwandelt, schließlich möchte er schon unser soziales Netz mit all seinen Vorzügen genießen. Dem neuen Besitzer seines Hauses hat er sein Wohnmobil vermacht, damit er in seinem Garten kampieren darf. Der muss sich das nur in Malmö abholen.

Mann, Jupp, das ist ja eine irre Story. Und das hat er dir alles erzählt? Der arme Kerl. Jetzt lauert doch gerade der böse Minister Lauterbach mit seinen berüchtigten Herbstregeln zur Bekämpfung des Corona-Killervirus auf ihn.

  • Im Gegenteil, Ingo, er ist ganz stolz, ein Impfverweigerer zu sein. Dazu hat er mir einen langen Brief eines australischen Schriftstellers vorgelesen: Die Ungeimpften sind die Helden der letzten zwei Jahre. Sie sind die tapferen Menschen mit vielen Kampfspuren, welche die Regierung versucht hat, zu brandmarken und mental zu brechen. Heute ist die harte Wahrheit ans Licht gekommen, dass nichts davon gerechtfertigt war. Den Ungeimpften wurde der Tod gewünscht, dabei waren die meisten Sterbenden vorher geimpft. Jetzt erwarten sie innere Dankbarkeit von der Bevölkerung, denn sie haben Mut und Beharrlichkeit gezeigt, bis die reine Wahrheit über die Impfhysterie ans Licht gekommen ist. Der Krieg gegen die Ungeimpften wurde verloren und wir Verblendeten sollten dafür ewig dankbar sein.

Soso, dann zitiere ich bezüglich der Sterberaten mal das Ärzteblatt vom 4. Februar 2022: „CDC: Geboosterte sterben 97 Mal seltener an COVID-19 – Atlanta – In den USA sterben derzeit täglich 2.500 Menschen an COVID-19. Die meisten sind ungeimpft. Nach neuen Zahlen der Centers for Disease Control and Prevention (CDC), die auf einer Pressekonferenz im Weißen Haus vorgestellt wurden, haben Menschen nach einer abgeschlossenen Impfung mit 2 Dosen ein 14-fach geringeres Risiko an COVID-19 zu sterben. Für Geboosterte ist das Risiko sogar um dem Fak­tor 97 geringer.“

  • Ach Ingo, mein lieber Nachbar würde diese Zahlen sofort als Lüge entlarven, weil das CDC komplett von den Demokraten unterwandert ist. Außerdem fühlt er sich durch die natürliche Immunisierung durch die Corona-Viren nahezu unverwundbar.

Du könntest ihm Leo Tolstois Erzählung „Der Tod des Ivan Iljitsch“ schenken. Ich zitiere: „eine dramatische Geschichte, die in einem drei Tage währenden Schmerzensschrei und in einer panisch-verzweifelten Suche nach dem Sinn des Lebens und Sterbens gipfelt, die buchstäblich erst im letzten Augenblick zum Abschluss kommt. Der Leser wird in diese Leidensgeschichte tiefer und tiefer hineingezogen; zunächst bloß ein distanzierter Beobachter, wird er immer mehr ein Mitleidender.“

  • Das Buch würde er nur lesen, wenn es von einem Republikaner verfasst, von Donald Trump empfohlen und Ivan ein Demokrat ist. Aber jetzt mal Butter bei die Fische, mein lieber Ingo: Was machst du denn in der nächsten Zeit? Es gibt ja nirgendwo mehr Anzeichen für deinen überbordenden Optimismus beziehungsweise gute Nachrichten für die Zukunft.

Das stimmt so nicht, Jupp. Du fällst wieder auf den Information Bias der Medien herein. Gute Nachrichten bringen leider keine Quote, deswegen muss man sie mühsam hinter dem hyperlauten Theaterschirm suchen. Es gibt immer mehr vernünftige Menschen, die unser grenzenloses Wachstum durch permanenten Konsum infrage stellen und alternative Lebensweisen aufbauen. Ich habe auf Bio-Bauernhöfen und in Land-WGs glückliche Menschen gefunden, die mit wenig Mitteln eine nachhaltige Landwirtschaft aufgebaut haben. Dorthin werde ich mich mal einige Zeit zurückziehen und neue Lebensentwürfe studieren. Das fördert meine mentale und psychische Stabilität und öffnet die Augen für echte Werte.

  • Also Ingo! Du willst mich jetzt tatsächlich verlassen und künftig als Ur-Grüner in der Pampa leben? Das kann doch nicht dein Ernst sein? Wie soll ich dann noch mit meinem Nachbarn klarkommen? Mit wem soll ich noch streiten? Wer baut mich wieder auf?

Keine Bange, Ingo. Es gibt ja ein tausend jahrealtes Naturheilmittel, welches wir an jedem Monatsanfang zu uns nehmen. Diese Tradition können wir gerne beibehalten. Und irgendwann kannst du vielleicht unser selbstgebrautes Bier kosten.

Bis dahin – halt die Ohren steif, Jupp und einen Prost auf deine Gesundheit: körperlich und geistig.

 

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Weine nicht um die Vergangenheit,
sie ist vorbei.
Stresse dich nicht wegen der Zukunft,
sie ist noch gar nicht da.
Lebe in der Gegenwart
und mache sie zu etwas Wunderbarem.

 

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