Ist der Pflegebereich nicht systemrelevant?
Heutzutage verfügt das deutsche Gesundheitswesen über die modernsten Technologien für Diagnostik und Therapie. Einen hohen Bekanntheitsgrad hat in den letzten Monaten die ECMO erlangt, eine Art Herz-Lungen-Maschine, die bei schwer erkrankten COVID-19 Patienten ohne die belastende Beatmung eine ausreichende Sauerstoffversorgung über Tage und Wochen ermöglicht. 670 ECMO-Einheiten gibt es zurzeit in der deutschen Intensivmedizin. Allerdings kann in jedem dritten der 22.000 Betten auf Intensivstationen kein Patient mehr behandelt werden. Am Horizont erscheint schon das in deutschen Kliniken bislang unvorstellbare Horrorszenario der Triage.
Denn wie sieht es in diesem hochkomplexen Technikumfeld mit dem Bedienungspersonal aus? Eine Tatsache lässt sich nicht mehr leugnen: In der vierten Coronawelle ist das Personal in der Intensivmedizin nach fast zwei Jahren Pandemie ausgebrannt. Trotz besserer Bezahlung (33% Steigerung von 2010 auf 2020) stieg die Anzahl der offenen Stellen in der Krankenpflege im Juni 2021 auf 16.234.
Von Gesetzes wegen soll aufgrund des hohen Betreuungsaufwandes pro Tagschicht eine Pflegeperson maximal für 2 Patienten und in der Nacht für 3 Patienten bereitstehen. Diese Zahlen sind vielerorts nicht erreichbar. Viele Pflegekräfte wechseln in Teilzeit, um den permanenten Stress zu mindern. Laut einer aktuellen Umfrage des Deutschen Krankenhaus-Institutes (DKI) beträgt die Abwanderungsquote des Pflegepersonals zwischen 5 – 10 Prozent. Der Deutsche Berufsverband für Pflegeberufe (DBfK) meldete schon 2020 alarmierende Zahlen: ein Drittel der Befragten will nach der Pandemie wegen der körperlichen und psychischen Extrembelastungen aus dem Beruf aussteigen.
Zur Kompensation von Personalausfällen in der Intensivpflege setzen die Krankenhäuser vermehrt fachlich unzureichend geschultes Pflegepersonal von den Normalstationen ein, um die Covid-19 Patienten zu versorgen. Doch wie sieht ihr neuer Arbeitsplatz aus? Jeder sechste mit oder wegen Corona eingelieferte Patient starb. Die Mitarbeiter bleiben bei dieser hohen Sterberate mit ihren seelischen Nöten allein, es fehlt an psychologischer Betreuung. Die überwiegende Belegung der Betten mit erkrankten Impfverweigerern belastet die Motivation zusätzlich.
Es herrscht allerorten Pflegenotstand. Dieser Begriff entstand bereits in den 1960er Jahren durch die Ausweitung der Krankenhausleistungen. Wegen des massiven Personalmangels wurden vielfach ausländische Pflegekräfte eingesetzt. An der Situation hat sich bis heute wenig geändert. Gesundheitsminister Jens Spahn reiste im Juli 2019 in den Kosovo und anschließend nach Mexiko, um Pflegefachkräfte für Deutschland zu rekrutieren. Aber damit wird das Grundproblem nicht gelöst. Der herrschende Personalmangel beruht zum großen Teil auf dem Finanzierungssystem des Gesundheitssystems und damit zusammenhängend auch der zunehmenden Verschlechterung der Arbeitsbedingungen in der Pflege und der Intensivmedizin.
Professor Felix Walcher fordert als Präsident der DIVI (Deutsche interdisziplinäre Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin) eine grundlegende Reform des Systems und verweist auf den vorliegenden Aktionsplan der Strategie 2030. Eine DIVI-Arbeitsgruppe hat einen Katalog an Empfehlungen für präventive Maßnahmen zur Stärkung der Handlungsfähigkeit, Bewältigung der Belastungen und zur Verbesserung der Kommunikation, insbesondere zur Reduktion von Angst, Entsetzen und Resignation, erarbeitet.
Für ein besseres Gesundheitssystem demonstrieren seit einem Jahr jeden Mittwoch Pflegende des Walk of Care vor dem Bundesministerium für Gesundheit. Mit der wöchentlichen Kampagne #gibuns5 stellt die Gruppe fünf klare Forderungen an die Politik: mehr Personal, bessere Ausbildung, kontinuierliche Fortbildung, gerechte Finanzierung und mehr politisches Mitspracherecht für alle Gesundheitsberufe.
Bei den „systemrelevanten“ Systemen wie Banken und Unternehmen hat Geld nie eine Rolle gespielt. Warum also lassen unsere Regierungen diese höchstrelevanten Mitarbeiter seit Jahrzehnten im Stich? Liegt es daran, dass „das alles Idealisten sind, die jeden Tag Leben retten. Die werden das schon irgendwie abkönnen?“
Augenscheinlich haben wir noch einen längeren Weg vor uns, bis die Zielvorgabe eines Lehrbuches für die Fachpflege vom verzweifelten Pflegepersonal ausreichend in die Praxis umgesetzt werden kann: „Die emotionalen Beziehungen vom Personal zum Patienten müssen auf Einfühlung beruhen und beim Patienten das Gefühl von Wärme, Sicherheit und Vertrauen auslösen.“
Manfred Kindler, KKC-Präsident