Risikobewältigung im Gesundheitswesen in der Corona-Krise
Primum non nocere, secundum cavere, tertium sanare
Mitte März 2020 meldete das Robert-Koch-Institut erstmals 16.662 laborbestätigte COVID-19-Fälle. 47 Menschen waren im Zusammenhang mit Corona-Infektionen gestorben. Infolgedessen schränkte die Bundesregierung seit dem 16. März 2020 den grenzüberschreitenden Verkehr zu verschiedenen Nachbarstaaten ein. Alle Bundesländer haben zu diesem Zeitpunkt die Schulen und Kindertagesstätten geschlossen. Einige Bundesländer, wie der Freistaat Bayern oder das Saarland verhängten eine Ausgangsbeschränkung für die Bevölkerung. Doch das war nur der Anfang einer Pandemie, mit der wir immer noch leben müssen. Inzwischen erleben wir trotz aller Verhaltensregeln der Bevölkerung die dritte Welle der Pandemie. Noch ist unklar, welche Mutationen des Virus sich entwickeln werden und welche Auswirkungen sie auf den weiteren Verlauf der Pandemie haben. Am 20. Mai 2021 zählte das Robert-Koch-Institut seit Beginn der Pandemie 3 626 393 nachgewiesene Infektionen mit Sars-CoV-2 in Deutschland. Die tatsächliche Gesamtzahl der Corona-Infektionen dürfte deutlich höher liegen, da viele, wegen fehlender Symptome, nicht erkannt werden. Die Gesamtzahl der Menschen, die an oder unter einer nachgewiesenen Infektion mit Sars-CoV-2 gestorben sind, stieg auf 86 902 Personen. Diese Entwicklung führte dazu, dass die Arbeitsdichte in allen medizinischen Einrichtungen seit Beginn der Corona-Pandemie stark zugenommen hat. Unter diesen Bedingungen hat die antike Weisheit „Erstens nicht schaden, zweitens vorsichtig sein, drittens heilen“ eine besondere Bedeutung erlangt. Die Frage ist allerdings, können wir dieser Forderung immer und überall gerecht werden? Die moderne Medizin und die eingesetzte Medizintechnik werden zunehmend komplexer und digitaler. Die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in den Gesundheitseinrichtungen erbringen viele Überstunden und arbeiten vielerorts am Limit ihres Leistungsvermögens. Daher ist die Zeit für die medizinische Behandlung und Pflege sehr knapp. Die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter sind vermehrt erschöpft, da die Anzahl der Risikopatientinnen und Risikopatienten vor allem auf den Intensivstationen nach wie vor hoch ist und das Personal für die medizinischen und pflegerischen Erfordernisse nicht ausreicht. Die Situation auf den Intensivstationen war noch nie so schlimm, wie gegenwärtig. Darin muss ein Grund gesehen werden, dass besonders während der dritten Welle der Corona-Pandemie ungewöhnlich viele Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter sagen, sie wollen in absehbarer Zeit ihren Arbeitsplatz wechseln und nicht mehr auf Intensivstationen, in der Notaufnahme oder in der Notfallmedizin arbeiten.
Situationsbedingt besteht besonders in den Krankenhäusern gegenwärtig ein sehr hohes Fehlerrisiko. Um die Sicherheit der Patientinnen und Patienten zu gewährleisten, sind mögliche Gefahrensituationen, verursacht durch menschliches Fehlverhalten, Fehlfunktion oder kompletten Ausfall von Medizintechnik sowie auch durch Organisationsfehler unter den gegenwärtigen komplizierten Bedingungen zu vermeiden bzw. zu minimieren. Rechtliche Regelungen wurden dafür in Deutschland geschaffen. Der Gemeinsame Bundesausschuss (G-BA) als höchstes Gremium der Selbstverwaltung im Gesundheitswesen hat auf der Grundlage des Patientenrechtegesetzes bereits im Jahr 2014 die Mindeststandards für die Risikomanagement- und Fehlermeldesysteme in der medizinischen Versorgung der GKV-Versicherten eingeführt. Im Paragraph 135a des Sozialgesetzbuches V ist die Qualitätssicherung und die Implementierung eines Risikomanagements durch die Leistungserbringenden verpflichtend festgelegt.
Die derzeitigen Arbeitsbedingungen unter der COVID-19-Pandemie und der damit verbundenen Überlastung des medizinischen und pflegerischen Personals erfordern, dass dem Risikomanagement in den Krankenhäusern und allen anderen medizinischen Unternehmen größere Bedeutung beigemessen wird. Vor allem die Maßnahmen zur Fehlerprävention sind von großer Relevanz. Bei kritischen Zwischenfällen darf nicht vorrangig einzelnen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern die Schuld zugewiesen werden. Es geht viel mehr um die Aufdeckung der Ursachen von Fehlern und der möglichen Verkettung von gefahrvollen Umständen in den medizinischen und pflegerischen Arbeitsfeldern. Völlig falsch wäre es, wegen Arbeitsüberlastung kritische Situationen und Beinahefehler im Umgang mit Patientinnen und Patienten zu verschweigen oder zu vertuschen, statt die fehlerbegünstigenden Umstände und Einflüsse zu beseitigen. Das erfordert, das Risikomanagement insbesondere in den Krankenhäusern noch während der COVID-19-Pandemie neu zu positionieren. Ohne in den nächsten Wochen und Monaten in blinden Aktionismus zu verfallen, sollten die bereits vorhandenen Fehlermeldesysteme, wie z.B. das Critical Incident Reporting System (CIRS) oder auch eines anderen Systems intensiver genutzt und das verfügbare Instrumentarium zum Risikomanagement überprüft und danach zielgerichtet eingesetzt werden. Ein ausgeprägtes Know-how ist erforderlich, um die vorhandenen Risiken richtig zu bewerten und zu überprüfen, ob neue Risiken entstanden sind oder bisherige Risiken überwunden wurden. Risikomanagerinnen und Risikomanager die im Gesundheitswesen erfolgreich sein wollen, müssen digitalisierungsaffin sein sowie eine Hands-on-Mentalität mit handlungs- und problemlösungsorientierten Verhalten besitzen.
Um die Qualität der pflegerischen Führung und das Wohlfühlempfinden der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter zu verbessern, sollte in jedem Krankenhaus geprüft werden, ob auf der Grundlage des sogenannten Magnet-Ansatzes bereits ausgeschiedene Pflegekräfte wieder eingestellt und neue Pflegekräfte gewonnen werden können. Die Stellenangebote sind in der Pflege aktuell 205 Tage vakant. Die Zeitspanne könnte sicherlich mit einer „magnetischen Anziehungskraft“ der Krankenhäuser auf Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter verkürzt werden. Das US-amerikanische Qualitätssiegel „Magnet Recognition“ bestätigt eine Zertifizierung für eine vorbildliche Patientenversorgung und für ausgezeichnete Arbeitsbedingungen für Pflegekräfte. In Europa erhielten bisher das Universitätsklinikum in Antwerpen (Belgien) und das NHS Trust City Hospital der Universitätskliniken Nottingham (England) diese Zertifizierung. Weltweit sind gegenwärtig 552 Krankenhäuser als Magnet-Kliniken zertifiziert. Diese Kliniken zeichnen sich aus unter anderem durch hohe Mitarbeiterzufriedenheit, geringe Burnout-Rate, niedrige Fluktuation und Fehlzeitenquote, rasche Neubesetzung freier Stellen, positive Werte zur Patientensicherheit und einem guten Ruf in der Öffentlichkeit aus. In Deutschland bereiten sich ebenfalls einige wenige Kliniken auf eine Zertifizierung vor.
Die Hauptlast zur Überwindung der Covid-19-Pandemie haben die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in allen Bereichen des Gesundheitswesens zu tragen. Einen besonderen Stellenwert nehmen hierbei die Krankenhäuser ein, die intensivmedizinisch an Corona erkrankte Menschen unmittelbar versorgen. Gleichzeitig sind aber unter den Covid-19-Pandemiebedingungen die starken ökonomischen Zwänge, denen alle Gesundheitsunternehmen unterliegen, nicht zu übersehen. Vor allem die Finanzierbarkeit der besonderen außerordentlichen Leistungs-anforderungen an die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, die Corona-Patientinnen und Corona-Patienten versorgen, ist trotz des COVID19-Krankenhausentlastungsgesetzes bisher unzureichend geregelt.
Es muss alles dafür getan werden, dass die Sicherheit der Patientinnen und Patienten nicht aufs Spiel gesetzt wird.
Prof. Dr. rer. oec. habil. Herbert Schirmer
Ehrenpräsident des Krankenhaus-Kommunikations-Centrums (KKC)
Ehrenvorsitzender des Deutschen Vereins für Krankenhaus-Controlling (DVKC)